In der Pressekonferenz wurde deutlich, dass es eine plausible Annahme zum Ablauf gibt, die aber hinsichtlich technischer Fragen noch genau durch eine Versuchsfahrt überprüft werden muss. Der FDL hat einmal regelwidrig eine Fahrt freigegeben, dies aber anscheinend unter plausiblen Annahmen.
Das Stellwerk Bad Aibling ist ein Dr S 60 (Relaistechnik, 1976 gebaut), Besetztmeldung über Achsenzähler. Das Stellwerk und FDL Kolbermoor wurden 1990 abgeschafft, Aufgaben des FDL Kolbermoor und das Schaltpult in das Stellwerk Bad Aibling übertragen; der FDL Bad Aibling hat damit in einer Person auch die Rolle des ehemaligen FDL Kolbermoor, kann insbesondere die Erlaubnisrichtung wechseln. Bei dem Stellwerkstyp können Rangierfahrstraßen entgegen der Erlaubnisrichtung erstellt werden, und nach Einlaufen und Verriegeln ohne Zählung mit Dokumentationspflicht wieder zurückgenommen werden, wenn sie entgegen der Erlaubnisrichtung aufgebaut wurden. Zwischen den beiden Bahnhöfen liegt ein Bahnübergang nach der Ausfahrt Bad Aibling (manuell durch den FDL bedient), der HP Kurpark, und zwei Zentralblocksignale (Richtung Kolbermoor am HP Kurpark, Richtung Bad Aibling kurz nach der Unfallkurve). Dazwischen ist ein automatischer Halbschrankenübergang, der durch die Blocksignale gedeckt wird. Auf der Strecke gibt es Funklöcher im GSM-R, die in der LA vermerkt sind.
Damit wäre folgender Ablauf denkbar:
1) Fahrplanmäßige Begegnung in Kolbermoor geplant, Erlaubnisrichtung auf Richtung Kolbermoor.
2) 79505 wird mit 10 Minuten Verspätung gemeldet. FDL bereitet eine Begegnung in Bad Aibling vor: Der FDL stellt die Fahrstraße Kolbermoor – Bad Aibling entgegen der bestehenden Erlaubnisrichtung (damit die Fahrstraße ggf. ohne Zählung/Eintragungspflicht wieder aufgehoben werden kann, entgegen der Erlaubnisrichtung).
3) Die Fahrstraße läuft bis zum Streckenblock vor Kurpark ein, Ausfahrtsignal Kolbermoor bleibt aber wegen falscher Erlaubnisrichtung rot.
4) Der FDL wechselt Erlaubnisrichtung (Fahrstraße kann wieder zurückgenommen werden ohne eintragungspflichtige Zählererhöhung). Ausfahrt Kolbermoor geht auf Grün.
5) 79505 hat erheblich aufgeholt und fährt deutlich früher als erwartet in Bad Aibling ein.
6) FDL will auf Begegnung in Kolbermoor zurück und stellt die Fahrstraße für den 79505 nach Kolbermoor, die Straße läuft bis zum Streckenblocksignal Kurpark ein. Ausfahrt Bad Aibling bleibt wegen falscher Erlaubnisrichtung noch rot. FDL gibt Zs1 um 6h42, um den 79505 schnell in den garantiert freien Block bis zum Haltepunkt Kurpark zu schicken. Am HP wartet der TF um 6h44 am roten Streckenblocksignal auf Grün.
7) FDL will 6h43 regelgerecht den Tf von 79506 per GSM-R informieren, dass er die Ausfahrt Kolbermoor zurücknimmt, erreicht ihn aber wegen Funkloch nicht. Er geht davon aus, dass der 79506 in Kolbermoor noch nicht losgefahren ist (Besetztmeldung im BF Kolbermoor noch rot, planmäßige Abfahrt 6h45).
8) 79506 fährt in Kolbermoor 6h44 eine Minute früher als Plan bei Grün los und fährt die Stecke vom Bahnsteig bis zum grünen Ausfahrtsignal Richtung Ausfahrtweiche.
9) Der 79505 steht in Kurpark; der Halbschrankenbahnübergang nach dem Streckenblocksignal hat fertig geschlossen, das Streckenblocksignal am Ende des Bahnsteigs Richtung Kolbermoor ist aber noch auf Rot.
10) Bahnhof Kolbermoor ist noch als belegt gemeldet, noch eine Minute zur Abfahrtszeit des 79506. FDL nimmt die Fahrstraße aus Kolbermoor zurück und wechselt 6h44 die Erlaubnisrichtung auf Richtung Kolbermoor.
11) Ausfahrsignal Kolbermoor fällt auf Rot, Zugspitze und INDUSI der einteiligen Garnitur sind aber gerade am Ausfahrtsignal vorbei. Die Fahrstraße (Zentralblock für Blocksignale zwischen Kurpark und der Unfallkurve) läuft wegen dem auf Rot gefallenen Ausfahrtsignal in Kolbermoor weiter bis Einfahrtsignal Kolbermoor ein. Streckenblock Kurpark wird grün für Block bis Einfahrsignal Kolbermoor (dies bleibt rot wegen Belegung des Ausfahrbereichs durch den losgefahrenen 79506).
12) Der 79505 hatte in Kurpark bereits abgefertigt und fährt sofort los, als das Streckenblocksignal Kurpark etwa 6h44 grün wird. Der 79506 bummelt, weil früh losgefahren, und verlässt den Rangierbereich Ausfahrt Kolbermoor spät in den Block Richtung Streckenblocksignal 1 km vor HP Kurpark. In der langen Geraden ist wahrscheinlich schon das gelbe Vorsignal für das Streckenblocksignal nach der Unfallkurve sichtbar (etwa 1,5km).
13) Bei Einfahrt in den Block aus dem Rangierbereich am Einfahrtsignal Kolbermoor löst der 79506 eine Besetztmeldung für den Block aus. Das Streckenblocksignal Kurpark fällt auf Rot zurück. Der losgefahrene 79505 ist aber mit Zugspitze und aktiver INDUSI der ersten Garnitur bereits am Signal vorbei und beschleunigt mit 1,2m/s² in 230m auf 100km/h.
14) Der FDL sieht die Freimeldung des Ausfahrgleises Kolbermoor und löst Notruf über GSM-R aus; möglicherweise wird in mindestens einem der beiden Züge noch eine Vollbremsung ausgelöst, der Zusammenstoß in der Kurve kann aber nicht mehr verhindert werden.
So könnte der Ablauf gewesen sein. Wenn sich das über das laufende Gutachten und die Rekonstruktion durch den Versuch auf der Strecke bestätigt, kann man als Fazit für diesen schrecklichen und tragischen Unfall ziehen:
a) Chronische Überlastung und Zeitdruck: Der FDL nutzt Tricks, um den Betriebsablauf möglichst effektiv durchzuziehen. Anstatt erst die Erlaubnisrichtung korrekt zu setzen und dann die Fahrtstrasse aus Kolbermoor nach Bad Aibling aufzubauen, lässt er sie erst mal entgegen der Erlaubnisrichtung bis zum Blocksignal einlaufen. Grund: Falls er doch noch auf die planmäßige Begegnung in Kolbermoor wechseln will, muss er nicht eine fest aufgebaute Fahrstraße zurücknehmen (Sicherheitszähler würde die Rücknahme registrieren, eine schriftliche Begründung müsste in die Stellwerkskladde). Er kann entweder durch Wechsel der falschen Erlaubnisrichtung die Fahrstrasse zur Einfahrt freigeben, und sie auch ohne Zählereignis mit Eintragspflicht wieder aufheben. Passieren kann eigentlich nichts, weil eine Zugfahrt erst mit der gewechselten Erlaubnisrichtung möglich wird. Als der 79505 aus Holzkirchen dann doch deutlich weniger Verspätung als angekündigt hat, kann er die Begegnung ohne Papierkram planmäßig nach Kolbermoor zurücklegen, indem er eine Fahrstasse aus Bad Aibling nach Kolbermoor anmeldet, die zunächst nur bis zum HP Kurpark einläuft (weil im nächsten Block schon die Fahrstraße aus Kolbermoor freigegeben ist). Die muss er zurücknehmen, und dafür muss er den Lokführer des 79506 kontaktieren, um die Rücknahme der freien Ausfahrt anzukündigen. Die Zeit drängt, deshalb schickt er den 79505 Richtung Kolbermoor mit einem Ersatzsignal über das rote Ausfahrtsignal Bad Aibling (die Fahrtstraße ist ja noch entgegen der Erlaubnisrichtung) zum naheliegenden Haltepunkt Kurpark (etwa 800m), dort muss der Zug ohnehin halten und abfertigen. Dann ruft er den 79506 in Kolbermoor an, erreicht ihn aber wegen Funkloch nicht.
Bis dahin konnte immer noch nichts passieren: Die beiden roten Blocksignale zwischen Kurpark und Kolbermoor sind fast einen Kilometer auseinander, so dass selbst bei Überfahren eine Zwangsbremsung zuverlässig eine Kollision verhütet hätte. Die Ausfahrtfreigabe aus Bad Aibling war zunächst auch kein Sicherheitsrisiko, der Block war ja frei und gesichert.
Diesen Ablauf (in der Regel ohne wartenden Zug mit freier Ausfahrt oder mit erfolgreicher Ankündigung der Rücknahme) hat es wahrscheinlich schon oft gegeben; Verspätungen und damit kurzfristige Änderungen der Begegnungsbahnhöfe sind auf der belasteten Strecke (im Investitionsplan von 2009 für zweigleisigen Ausbau vorgesehen) wahrscheinlich häufig, und bevor man sich jeden Tag die Finger mit Rücknahmebegründungen wundschreibt (Dienst nach Vorschrift: Die effektivste Form des Streiks), nutzt man den Trick mit der Fahrstraße auf Rangierniveau.
b) Jetzt passieren in wenigen Sekunden die fatalen Fehler:
1) Der 79506 wird nicht erreicht (Funkloch) und ist so nicht vom Wechsel und der Rücknahme der Ausfahrt informiert.
2) Er fährt in Kolbermoor bei Grün eine Minute zu früh los. Kann sein, dass seine Borduhr etwas vorging.
3) Der FDL weiss das nicht, und nimmt die Ausfahrtfreigabe durch Rücknahme der Fahrstraße und Wechsel der Erlaubnisrichtung ohne Rücksprache zurück (am Gleisbild ist das Bahnhofgleis noch besetzt, und es ist noch über eine Minute zur Abfahrtszeit). Das war der kritische Fehler. Die Alternative wäre aber bei weiterer Verzögerung Stillstand und Rückfahrt des 79505 nach Bad Aibling gewesen, mit reichlich Stress und Erklärungsbedarf.
4) Der Rest ist Murphy's Law 1 und 2. Beide Züge sind bei Grün losgefahren, und das Timing war zufällig auf die Sekunde genau.
c) Die Technik hat offensichtlich ein Scheunentor für regelwidrige Schleichwege offen gelassen.
3 mal bearbeitet. Zuletzt am 22.02.2016 14:41 von LaurenzBo.