"junge Welt" von heute
Tramplosion mit Ansage
Hintergründe des erstaunlichen Straßenbahn-Kollapses in Potsdam und anderswo
Die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam sieht sich weltweit in den Schlagzeilen. Alle Straßenbahnen vom Typ »Combino«, hergestellt von der Siemens-Tochter STS, mußten am vergangenen Samstag aus dem Verkehr gezogen werden. In Potsdam fahren nun trotz Mobilisierung aller Reserven derzeit 27 Straßenbahnen (statt 32) Trams, was allerdings heißt, daß Bahnen »zu 140 Prozent besetzt« sind.
Siemens rühmte sich 2003, der Tram-Typ Combino sei die »erfolgreichste Niederflurstraßenbahn der Welt.« Sie ist so erfolgreich, daß sie nicht nur in Augsburg, Düsseldorf, Erfurt, Freiburg/B., Ulm oder Nordhausen, sondern auch in Hiroshima, Basel, Bern, Melbourne und Poznan zum Einsatz kommt. In der Folge dürfte es auch in all diesen Städten zum Kollaps im Trambahn-Einsatz kommen.
Zu hören sind die üblichen Beschwichtigungen. Eine Siemens-Sprecherin: »Die Wagenkästen wurden nach deutscher Norm gebaut.« Es habe »keinen einzigen Fall von Gefährdung in der Praxis« gegeben. Man könne lediglich »nicht einwandfrei voraussagen«, wie bei Kollisionen »betroffene Wagen reagieren«.
Der Technik-Chef der Basler Verkehrsbetriebe (BVB), Marcel Kuttler, wurde deutlicher; in seiner Stadt mußten die Combino-Trams zeitgleich vom Gleis genommen werden. Berechnungen des Herstellers hätten ergeben, »daß Teile des Dachs auf die Fahrgäste stürzen können, wenn eine Tram ... sehr heftig bremsen muß«. Auf dem Dach ist die gesamte Elektrik mit Transformatoren untergebracht – es geht um ein nicht ausreichend gesichertes Tonnengewicht über den Fahrgästen.
Vieles spricht dafür, daß es sich um eine angekündigte Tramplosion handelt. Noch im September hatte die Potsdamer CDU-Fraktion, gestützt auf ein Gutachten des Verkehrsberaters Dieter Döge, im Parlament gefragt, wer die Aluminium-Wagenkästen der Combinos wartet und repariert. Die kühle Antwort lautete: Eine Wartung sei nicht erforderlich; Materialermüdungen seien nicht festgestellt worden.
Abgesehen von »lokalen Besonderheiten« – Siemens-Vertreter sollen sich intensiv vor Ort und inVier-Augen-Gesprächen um den Auftrag bemüht haben – gibt es drei objektive Gründe für das Tram-Desaster: Seit Ende der achtziger Jahre gibt es weltweit ein Revival der Tram. Das ist erfreulich, denn tatsächlich ist ein modernes Tram-System bereits in kleineren Städten optimal und in Millionenstädten, ergänzt um S-Bahnen, der klassischen Kombination von U-Bahn, Bussen und S-Bahnen hinsichtlich Komfort, Flexibilität und Rentabilität weit überlegen. Der neue Boom führte zum Aufbau großer Kapazitäten, zu harter Konkurrenz und zu einem Preiskrieg. Ähnlich wie bei den Eisenbahnen (siehe dort das Desaster mit der Neigetechnik) wurden Modelle auf den Markt geworfen, die nicht ausgereift waren. So der Combino. Seit Ende der neunziger Jahre kollabiert der Tram-Markt, auch befördert durch die Krise der kommunalen Finanzen. Das Umsatzvolumen des »Light-Rail-Marktes« wird laut dem Unternehmensberatungsunternehmen SCI weltweit von 1,7 Milliarden im Jahr 2002 auf rund eine Milliarde Euro im kommenden Jahr kollabieren. Was den Druck erhöht, auf Teufel komm raus den Städten und ihren Vertretern Trams anzudrehen.
In kaum einem anderen kapitalistischen Sektor ist die Kapitalkonzentration so groß wie bei der Bahntechnik. Faktisch gibt es nur noch drei Konzerne, die den Weltmarkt kontrollieren: das französische Unternehmen Alstom (Marktanteil in Westeuropa: 32 Prozent), Bombardier (36 Prozent) und Siemens (20 Prozent). Alstom befindet sich in einer existentiellen Krise. Siemens verdient den größten Teil seines Umsatzes im Autozulieferungsgeschäft. Bombardier ist der weltweit größte Hersteller von Regionalflugzeugen. Das heißt, daß Böcke als Gärtner agieren. Nein, keine Verschwörungstheorie! Klar ist jedoch, daß Konzerne, deren Business von Verkehrssektoren (Auto bzw. Regionalluftfahrt) dominiert werden, die in direkter Konkurrenz zur Schiene stehen, dazu tendieren, ihr Hauptgeschäft gut zu bedienen – gegebenenfalls auf Kosten des konkurrierenden »Nebenbereichs«.
In Berlin gab es im übrigen vor siebzig Jahren schon einmal eine Tramplosion: 1928 und 1929 wurden bei den Berliner Straßenbahnen 300 neue Mitteleinstiegs-Triebwagen in Betrieb genommen. Diese mußten 1931 komplett ausgemustert werden – wegen »Mängeln an der elektrischen Ausrüstung«, wegen betriebsunsicherer Bremsen und spektakulärer Unfälle. Die Wagen waren von der »Nationalen Automobil-Gesellschaft« (NAG) in Oberschönweide hergestellt worden, einer AEG-Tochtergesellschaft. Nach dieser historischen Tramplosion hatten in Berlins öffentlichem Verkehr der U-Bahnbau, die Busse und oberirdisch der Pkw grünes Licht.
Zurück zur aktuellen Tramplosion: Man stelle sich Vergleichbares im Pkw-Bereich vor. VW forderte alle Golf-Besitzer auf, ihre Autos, sofern sie mehr als 50 000 km auf dem Tacho haben (ungefähr das Äquivalent zu den 120 000 km bei den Combinos), für unbestimmte Zeit nicht mehr zu benutzen. Die Folge wären eine schwere Krise bei VW und der millionenfache Wechsel der Kundschaft zur Konkurrenz. Was passiert beim Siemens-Combino-Desaster? Die Börse spekuliert, daß Siemens auch noch Alstom schluckt und es dann nur noch zwei Bahntechnik-Anbieter gibt. Die Verkehrsbetriebe Potsdam befinden sich in Verhandlungen über den Kauf weiterer Combinos, wobei allerdings »das Garantiethema noch Gegenstand der Gespräche« sei.