Zitat
Latschenkiefer
In der neuen Signal 4/2017 gibt es einen Artikel zur Einstellung der Straßenbahn in West-Berlin 1967 von Jan Gympel. Er schreibt u.a. zur Eingangsfrage:
"Wie sehr sich die Politik im Einklang mit dem Zeitgeist befand, zeigt auch die Tatsache, dass sich gegen sie kaum Widerspruch regte. (...) Das Verschwinden der Straßenbahn wurde zwar wehmütig ein wenig beweint, aber gemeinhin als unvermeidlich angesehen. Immer wieder hieß es, die Zeit dieses Verkehrsmittels wäre eben vorüber und das Alte müsse weichen."
(...)
Ja, im damaligen Berlin (West) hatte die Straßenbahn über viele Jahre keine Mehrheiten in der Bevölkerung.
Dr. Walter Schneider hat in seinem Standardwerk (Der Städtische Berliner Öffentliche Nahverkehr) auf Befragungen hingewiesen, in denen sich Mehrheiten um 70% für die Einstellung der Straßenbahn ergaben. Bei Frauen gab es übrigens mehr Straßenbahnanhängerinnen (nach meiner Erinnerung waren 16% der Männer, aber 26% der Frauen gegen die Einstellung der Straßenbahn).
Dennoch hätte der Bau der Mauer von 1961 und dem für klug gehaltenen "S-Bahn-Boykott" zu einer veränderten politischen Haltung zur Straßenbahn im Westteil der Stadt führen können und müssen.
Schneider zufolge ging die Nutzung der S-Bahn im Westteil von 500.000 - 600.000 Fahrgästen täglich auf etwa 80.000 zurück. Bei der BVG-West ergab sich werktäglich ein Fahrgastzuwachs von 400.000 - 450.000 Fahrgästen. Bereits am folgenden Montag, dem 14. August 1961 gab es Betriebsverstärkungen auf den Sl 2, 3, 25, 44, 53, 54, 55 und 60, ab Donnerstag, dem 17. August 1961 zusätzlich auf den Sl 73, 74, 77, 78 und 96. Diese fünf Linien sollen ab Montag, dem 21. August 1961 auch verstärkt behängt worden sein.
Die Autobuslinie A 48 wurde zeitweise von der Potsdamer Brücke zum Titaniapalast zurückgezogen, um Entlastung beim Autobus zu schaffen, der auch auf zahlreichen Linien verstärkt wurde. Verkürzt wurden auch die Linien A 70 und 72 (bis Wiebestraße, bei Schneider "druckfehlerfälschlich" 70 und 74), für die die "55" (wie schon erwähnt) verstärkt wurde.
Die zum Winterfahrplanwechsel (1.10.1961) vorgesehene Umstellung der "98" und "99" (zuletzt: Tempelhof (Südring) - Marienfelde, Daimlerstraße bzw. Lichtenrade) wurde zurückgestellt (leider nur für zwei Monate).
Auf dieser Linie hätte man weitermachen können und meines Erachtens auch müssen.
Dies ist eine sehr komprimierte "tramfokussierte" Wiedergabe von Dr. Walter Schneider: Der Städtische Berliner Öffentliche Nahverkehr, Band 12, S. 25/26. Wer einmal darin "schmökern" will, dem sei der Weg in die Berliner Stadtbibliothek (Breite Straße 30 - 36) empfohlen (Obacht: Der Bereich Berlin-Studien schließt auch Montags bis Freitags bereits um 19.00 Uhr!).
Dennoch einen schönen Abend wünscht Euch
Marienfelde
P.S.: Für Interessierte noch ein Link zur Berliner Linienchronik zwecks Nachvollziehung der damaligen Linien (zu den Linienführungen müßtet Ihr dort "weiterklicken): [
www.berliner-linienchronik.de]