Zitat
der weiße bim
In anderen hier immer hoch gelobten Weltstädten geht man nicht so kleinlich an die Sache ran. Statt den Schnellbahnausbau bei jeder sich bietenden Gelegenheit schlecht zu reden, wird er in der Donaumetropole intensiviert.
Wieder mal ein Versuch von Framing pur nach dem Motto "Überall auf der Welt werden massiv U-Bahnen gebaut - nur in Berlin nicht".
Doch schauen wir uns mal das Linienkreuz U2/U5 in Wien an.
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Es ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Diskussionen und Planungen - nicht ganz grundlos wird die Liniennummer "U5" in Wien erst mit der neuen Strecke vergeben.
Und auch ein Ergebnis etlicher Wandlungen in dem Leitbildern Wiener Verkehrspolitik - gerade der jetzige U2-Tunnel unter der "Lastenstraße/Zweierlinie" scheint unter dem "Fluch" zu leiden, etwa alle 20 Jahre massiv umgebaut zu werden - einschließlich mehrjähriger Sperrungen und nicht unerheblichen Investitionen:
1966 - Eröffnung als U-Strab (Und übrigens überaus erfolgreich bezüglich der Nachfrage - die dort verkehrenden Durchmesserlinien der Straßenbahn waren mit die nachfragestärksten in Wien).
1980 - Umbau zu Voll-U-Bahn und Bedienung mit kurzen Zügen der Linie U2 mit ebenso kurzer Linienführung. Die Nachfrage gegenüber den vorherigen Straßenbahnlinien ist massiv zurückgegangen, bis heute sind in vielen vormals durchgehenden Relationen zwei Umstiege erforderlich - aber damals galt: Hauptsache U-Bahn. Übrigens wollte man in diesem Zusammenhang auch die Straßenbahnlinien auf dem (inneren) Ring stilllegen - das konnte durch Proteste verhindert werden, doch wurde der Ring danach über etliche Jahre mit den nachfragemäßig nahezu bedeutungslosen Ringlinien 1 und 2 bedient, ebenso wie die U2. Durchmesserlinien bei der Straßenbahn waren unerwünscht - es sollte auch auf kurzen Strecken auf die U-Bahn umgestiegen werden.
2003 - Nochmaliger aufwändiger Umbau für längere Züge und für die Einfügung der verlängerten U2 - unter Aufgabe der Zwischenstation "Lerchenfelder Straße". Immerhin bekam dieser Tunnel damit eine vollwertige U-Bahn-Linie einschließlich der dazugehörigen Nachfrage. Kurz danach hat man begonnen, auch das Straßenbahnnetz in der Innenstadt partiell neu zu ordnen - es entstanden wieder Durchmesserlinien. Die Wiener Verkehrspolitik hat begonnen zu realisieren, dass die Straßenbahn sehr wohl auch bei Ausbau der U-Bahn eine wichtige Rolle spielen kann.
202x - Nochmaliges "Aufbohren" des Tunnels - dieses Mal für den Bau des Linienkreuzes U2/U5 am Rathaus.
Ein so häufiger grundhafter Umbau eines U-Bahn-Tunnels im "20-Jahre-Takt" dürfte europaweit einmalig sein. Nachhaltig ist das bestimmt nicht - weder verkehrlich noch ökologisch. Trotz der Berliner Zuneigung zum Bau vieler Vorratsbauten unter der Erde - so ein Meisterstück an Tunnelumbauten haben wir hier nicht hingelegt... ;-)
(2)
Das Linienkreuz U2/U5 steht - wenn auch erst auf den zweiten Blick - durchaus für ein gewisses Umschwenken in der Wiener Verkehrspolitik. Bis zum Beschluss, diese Strecken zu bauen, wurden vor allem U-Bahn-Projekte zur Netzerweiterung am Stadtrand weiterverfolgt. Geplant war eine Verlängerung (Abzweig) der U1 im Süden nach Rothneusiedl, im Nordosten sollte die U6 nach Stammersdorf verlängert werden u.s.w. Diese Projekte werden b.a.w. nicht weiterverfolgt - sie würden auch in nahezu nachfragefreie Gegenden ohne reale Aussicht auf jede Stadtentwicklung geführt worden.
Dahingegen bildet das U2/U5-Kreuz potenziell äußerst nachfragestarke Korridore ab - unter dichtesten Stadtquartieren mit hoher Nutzungsdichte. Die prognostizierte Nachfrage wird - insbesondere bei der U2 - in einem Bereich liegen, der einen U-Bahn-Betrieb höchster Kapazität selbstverständlich rechtfertigt. Bei der neuen Wiener U5 sieht es allerdings schon etwas anders aus - hier wir die Zukunft zeigen, welche Berechtigung sie haben wird.
Und da tun sich doch Parallelen zu Berlin auf: in der politischen Diskussion haben wir ja im Moment fast ausschließlich neue U-Bahn-Strecken am Stadtrand. Also genau das, was Wien (ersteinmal) zu den Akten gelegt hat - aus guten Gründen. Und siehe da - in Berlin haben wir soeben eine Innenstadtstrecke der U-Bahn eröffnet - und eine weitere Tunnelstrecke mittendurch (S21) ist in Bau/Planung. Von wegen, kein Tunnelbau... (Vom Schnellbahnausbau im Rahmen i2030 rede ich jetzt gar nicht erst - der findet übrigens von keiner relevanten Seite Widerspruch, trotz erforderlichem Milliardenaufwandes).
(3)
Und nicht zuletzt verweise ich auf einen Vergleich der Streckennetze der Straßenbahnen in Wien und Berlin. Ich denke, wenn in Wien in einer Stadthälfte die Straßenbahn komplett fehlen würde, wären dort - trotz aller verkehrspolitischer "Umwege" der letzten Jahrzehnte - die Prioritäten dort sicher anders. Eine nennenswerte Anzahl an überlasteten Buslinien im ganztägigen Fünf-Minuten-Takt (bis auf die berüchtigte Linie 13A) ist mir trotz der sehr dichten Wiener Takte im Gegensatz zu Berlin nicht bekannt - dafür in vielen Stadtteilen ein Straßenbahnnetz in einer Dichte, die weltweit nur selten anzutreffen ist. Und bei ähnlicher Netzlänge der Straßenbahn wird eine Nachfrage erreicht, die grob etwa 60% über der in Berlin liegt.
Und zusammenfassend dazu zum Thema Gesamt-CO2-Bilanz von Bahnen im Tunnel: Es ist und bleibt vor allem eine Frage der erreichten Nachfrage. Strecken mit wenigen tausend Fahrgästen am Stadtrand (wie in Berlin in der Diskussion) werden sicher keine gute Bilanz erreichen.
Schafft man aber einen Korridor mit sehr hoher Nachfrage, sieht die Bilanz langfristig ganz anders aus (was die unlängst publizierte Studie ja auch der S21 bescheinigt). Und in dieser Größenordnung dürfte auch die U2/U5 in Wien liegen oder die angedachte U9 in München. Oder die M2 in Warschau. Oder die allermeisten der im Rahmen von "Grand Paris Express" geplanten/in Bau befindlichen Linien. Oder noch weit darüber die Elisabeth Line in London - um mal einige weitere nennenswerte europäische U-Bahn-Projekte zu nennen...
Ingolf
1 mal bearbeitet. Zuletzt am 21.12.2020 20:09 von Ingolf.