Ingolf schrieb:
> Allein das Vorhandensein eines Leitbildes ist noch
> kein Wert an sich - es kommt immer auf den
> inhaltlichen Wert des Leitbildes an. Und ist es
> allemal besser, sich ein paar Jahre
> "durchzuwurschteln", als an einer Idee
> festzuhalten, die "falsch" ist. Auch wenn die
> Bauindustrie dann etwas herummeckern wird... ;-)
Wir haben dieses Durchwurschteln seit der Wende...
> 1. Man braucht nicht unbedingt kreuzungsfreie
> Schnellstraßen, um eine hohge Leistungsfähigkeit
> eines Straßensystems herzustellen. Auch auf den
> "klassischen" Berliner Hauptstraßen werden sehr
> hohe Automassen tagtäglich ohne relevanten
> Dauerstau bewegt.
Richtig. Eigentlich ein interessantes Lehrstück.
> 2. Was wir momentan haben, ist kein verkehrlicher
> Normalzustand. Auf sehr viele Fahrten wird
> verzichtet, da man davon ausgeht, dass der Streik
> kein Dauerzustand darstellen wird. Langfristig
> wäre bei schlechterem ÖPNV mit mehr Zuwachs zu
> rechnen.
Ja, aber als ehem. Berufskraftfahrer weiß ich aus jahrelanger Erfahrung, dass man in Berlin mit dem Auto *immer* schneller ist als mit den Öffentlichen. Das ist eines der großen Probleme und nicht die fehlende Straßenbahn im Westteil. Die wäre auch nicht schneller als der Bus.
> 3. Und das zeigt sich ja jetzt ganz eindeutig:
> wenn die Straßen ohne wirklich relevante Probleme
> 20% mehr Verkehr (in den Spitzen sogar noch mehr)
> aufnehmen können - warum sollen wir dann noch mehr
> Straßen in dieser Stadt bauen?
Weil der LKW nicht U-Bahn fährt. Im Übrigen sind abgesehen vom Stadtring alle Straßenprojekte tot. Im BVWP kriegt Brandenburg die doppelten Zahlungen von Berlin im Straßenbau bei der Hälfte der Einwohner. Von Straßenfreundlichkeit ist da nur in Deinen Vorstellungen die Rede.
> Ein Leitbild eines irgendwie "demokratischen
> Bauens" findet sich erstaunlicherweise kaun in
> historischen Betrachtungen der Entwicklung der
> planerischen Leitbilder der letzten ca. 100 Jahre.
Gropius hat das formuliert und meinte damit z.B. Waschküchen im Hochhaus, die es auch Frauen ermöglichen am Arbeitsleben teilzunehmen. War Thema der Ausstellung Leben im Hochhaus im Bauhaus-Archiv.
> gehuldigt, wie die westlichen Demokratien. Die
> autogerechte Stadt bzw. den Städtebau der Moderne
> als zwangsläufige Folge und zwingende
> Notwendigkeit der Demokratie kann ich nicht
> erkennen.
Man muss akzeptieren, dass beide Ideen zur gleichen Zeit entstanden und von den gleichen Leuten vertreten wurden. Natürlich hatte der Städtebau der Moderne demokratische Grundsätze (rauchlose Stadt, kurze und ungefährliche Wege zu Schulen, Teilung Arbeit-Wohnen). Im Prinzip als Reaktion auf die Mietskasernen schon in den 20ern entstanden, kam er erst nach dem 2. WK zum Durchbruch.
> Es wäre dann wohl in diese Richtung gegangen.
> Halbwegs rational geplant - auch nach der
> wissenschaftlich orientierten Verkehrsplanung der
> damaligen Zeit, die der Straßenbahn entgegen weit
> verbreiteter Meinungen damals sehr wohl eine Rolle
> in der ÖPNV-Struktur zugedacht hat - wären sicher
> eine ganze Menge Nebenstrecken auf Bus umgestellt
> worden und einige Hauptachsen auf U-Bahn. Aber ich
> denke nicht, dass die Straßenbahn unbedingt
> gänzlich aus dem Zentrum verschwunden wäre.
Nein, auf Radialen wie der Potsdamer oder Hardenbergstraße wären die Linien verblieben. Städte wie Prag oder Braunschweig machen ihren Hauptumsatz auf Strecken, die es vor 40 Jahren nicht gegeben hat und alte wurden stillgelegt. Das nur zum Thema "es wurde ein funktionierendes System stillgelegt". Die Straßenbahn hätte in West-Berlin so verändert werden müssen wie im Ostteil, um zu bestehen.
> Beide Städte sind insofern interessant, da sich
> dort (wenn die geplanten Projekte ungesetzt
> werden) jeweils ein Netz entwickelt, welches genau
> die Lücken ausfüllt, die eine Schnellbahn nicht
> leisten kann:
München ja, Frankfurt nein. Die u-bahnartige Stadtbahn in Frankfurt führt dazu, das man die Systeme nach Belieben gegeneinander ausspielt. Wenn irgendwo der Schwachsinn regiert, dann in Frankfurt (siehe Kuhhandel A66 kontra U4). Es kann sich jeder ausmalen, was in Berlin die U5 mit der A100 zu tun hätte. Grünenschwachsinn aus dem Bilderbuch vergangener Tage.
> Vor 25 Jahren hätte kaum jemand ernsthaft gedacht,
> dass München, Frankfurt am Main oder Nürnberg im
> Jahr 2000 nach Straßenbahnen haben werden und die
> Netze ausbauen.
Umstritten war die Stilllegung immer.
> Kaum jemand hätte geglaubt, dass
> zwischen 1985 und 2010 im westlichen Europa etwa
> 50 komplett neue Straßenbahnsysteme entstehen.
Ingolf, von den 50 "Straßenbahnen" sind etliche Systeme Stadtbahnen, die ein Frankfurter als U-Bahn bezeichnen würde. Es haben schon viele vor mir versucht Dir zu erklären, das die *Neu*einführung eines Systems in herunter gekommenen Innenstädten auf 100% Eigentrasse etwas anderes ist, als die Erweiterung eines bestehenden Netzes. Deutschland war vor 25 Jahren und ist immer noch ein Straßenbahnland. Für ein Netz wie in Erfurt, Leipzig oder Augsburg muss eine französische Stadt noch lange stricken.
> Wenn ich von einer Idee überzeugt bin, dass bin
> ich auch bereit - natürlich mit demokratischem
> Mitteln - für diese einzutreten.
Nimm es nicht persönlich, aber bei Dir habe ich da Zweifel;-). Es haben schon viele gedacht, sie würden im besten Sinne handeln. Hinterher war man schlauer.
> drastisch an. Interessant ist übrigens bei
> Volksbefragungen zu neuen Straßenbahnstrecken in
> Städten, wo dieses Verkehrsmittel bereits
> existiert die Tendenz, dass in den Stadtteilen, wo
> die Straßenbahn bereits existiert die
> Zustimmungsquote zu neuen Strecken meist
> signifikant größer ist, als in den Stadtteilen, wo
> es diese nicht gibt (und auch nicht geplant ist).
Wer hat das Geld für solche Umfragen, bestimmt die Schweiz :-)
> > um den Gewinn neuer Fahrgäste geht...
> Aber genau darum sollte es doch gehen, worum denn
> sonst?
Da fragst Du jetzt den Falschen...
> zu sehen: Wenn nicht in einen qualitativ
> hochwertigeren ÖPNV in Berlin investiert wird,
> dann wird er aufgrund der demographischen
> Entwicklung schon bald beginnen, Fahrgäste zu
> verlieren
Es ist eine DIW-Studie. Um Dich zu zitieren: Hätte vor 25 Jahren jemand gedacht, das Berlin Bundeshauptstadt wird? Es ist vielleicht möglich die Entwicklung Würzburgs auf Jahrzehnte voraus zu sehen. Wie sich der Verkehr in Berlin entwickelt, da wäre ich skeptisch. Ich halte viel vom DIW, aber Studien haben einen signifikanten Nachteil: Sie halten einen Parameter fest (steigender Anteil der Rentner) und treffen dann eine Aussage. Was mit dem Fremdenverkehr ist und ob die Wirtschaftsleistung Berlins evtl. steigt, wissen sie nicht (woher auch).
> Eine Straßenbahn in diesem Korridor würde keinen
> nennenswerten Straßenraum für den
> Individualverkehr entziehen, da wir hier heute
> bereits auf langen Abschnitten Busspuren haben.
> Der Verkehrraum müsste somit nur umgeordnet
> werden.
Das offenbart wieder Deine Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten. Es ist eine Kombispur mit Ladeverkehr und der muss dort sein. Fahr bitte mal hin bevor wir hier weiter schreiben.
> Zudem würde die "Westtangente" einen großflächigen
> Abriss vorhandener Stadtquartiere und die völlige
> Entwertung der Schöneberger Insel als Wohnstandort
> bedeuten. Das wäre eine unglaubliche Zerstörung
> von funktionierenden städtischen Strukturen.
Die alten Pläne zu dieser Verbindung sahen an der Schöneberger Insel Tunnellösungen vor, das müsstest Du aber eigentlich auch wissen. Städtisch funktioniert da gar nix. Die Schöneberger Insel ist von Verkehrsflächen eingeschlossen, noch ohne Anschluss an die S-Bahn und zählt zu den ärmeren Stadtteilen Schönebergs.
> Nur ein Beispiel, wie schnell sich etwas ändern
> kann:
> Noch im Jahr 2000 meinte man in Marseille, keinen
> Ausbau der Straßenbahn zu benötigen und setzte auf
> einen Ausbau der U-Bahn. Im Jahre 2007 ging die
> erste neue Straßenbahnlinie in Betrieb - mitten
> durch das Stadtzentrum und unter städtebaulicher
> Aufwertung der von ihr durchfahrenen Straßenräume.
Jetzt wird es wieder unheimlich international. Lafontaine kommt auch immer mit Frankreich ;-)
1) Marseille war sowohl beim U-Bahnbau als auch bei der Strab immer Trittbrettfahrer. Sollen die anderen vormachen, wir machen nach. Daraus resultiert ein halbherziges U-Bahnnetz und Straßenbahnprojekt.
2) Stand die Erweiterung des U-Bahnnetzes nicht zur Disposition. Der Neubau der Linie 1 von La Timone nach La Fourragére ist Bestandteil des ÖPNV-Plans und wird durchgeführt. Ob es wirklich sinnvoll ist die Straßenbahn von Bougainville länger als die U-Bahn in die Vororte zu ziehen ist auch in Marseille umstritten. Die Verlängerung existenter U-Bahnlinien ist dort nach wie vor vorgesehen, weil das Netz nur 20 km lang ist. Weitere Vorhaben waren auch nicht beabsichtigt.
Wir werden sehen, wie die Strab-Systeme in Frankreich altern. Die Entwicklung in Spanien ist deutlich besser zu bewerten.
Gruß
Alex